
Myra rümpfte die Nase und ging dann weiter. Sie war bei einem der Templerlager stehen geblieben, hat sich ein Bild von der Rüstfähigkeit der Röcketräger gemacht. Wo auch immer diese Typen ihre Ressourcen an Geld und Material nahmen, Myra würde nur zu gerne an der Quelle sitzen. Ein Blick genügte, um festzustellen, dass diese Männer und Frauen Qualität trugen. Nur die Frage, ob speziell die Männer auch noch was unter ihren Röcken trügen, die war noch nicht geklärt. Und so sehr sie eine Antwort auf diese Frage wollte, so sehr konnte Myra auch darauf verzichten. Nach wie vor suchte sie nämlich nach einem geeignetem Ort, um die ersten Tests zur Spannfähigkeit ihrer neuesten Konstruktion zu machen. Die Suche erwies sich als schwieriger, als man es in einer sich aufbauenden Stadt erwarten würde. Aber Waffen waren hier offiziell nur von den Wachenden gern gesehen, drum suchte sie auch einen Ort, der ein wenig abseits des Geschehens lag. Während die Nuke durch die ersten fertigen Straßen schlenderte, wanderten ihre Augen zwischen Gebäuden und Menschen hin und her. Die Flüchtlinge bauten sich hier eine neue Heimat, womöglich eine prächtigere, als sie jemals in Kiri, oder von woher sie auch immer kamen, je haben könnten. Gerade als Kind hatte die Schwarzhaarige immer von einem eigenen kleinen und geheimen Versteckt geträumt. Ein kuscheliger Rückzugsort, an welchem man seine lauen Tage verbringen oder Wunden auskurieren konnte. Aber Van hatte ihr diesen Gedanken schnell ausgetrieben. Sesshaftigkeit bedeutete für den Feind nur, dass man viel leichter aufzuspüren und somit ein leichteres Ziel war. Aber mit Tish hatte er eigentlich auch seinen Rückzugsort, denn seine Besuche bei der Dame waren nicht gerade selten. Auch jetzt noch überlegte Myra hin und wieder, sich nicht ein, oder mehrere kleine Verstecke in unterschiedlichen Reichen und Regionen zuzulegen. Wenn sie regelmäßig ohne Muster die Standorte wechselte, würde man sie nicht so schnell finden. Und der Ausbau eines Verstecks war auch schnell erledigt. Vielleicht war dies ein gutes Ziel, nachdem sie diesen Ort hinter sich ließ. Denn ewig würde Myra nicht bleiben. Selbst wenn sie sich dann wieder von Miyuki trennen müsste.
Dann, endlich, stach Myra ein geeigneter Platz ins Auge. Zwischen zwei Zelten nach hinten hinaus und gegenüber von einem Nadelbaum standen zwei Kinder faustdicke Holzpfähle im Boden. Sie gingen dem Mädchen selbst bis unter die Brust, hatten somit eine perfekte Höhe. Myra testete kurz die Stabilität und die Verankerung im Boden, stellte dabei zwei dickere Einkerbungen im Kopf des Holzes fest. Ihr erschloss sich nicht ganz, wozu die beiden Pfähle dienen sollten, aber das war der Schwarzhaarigen gleich. Dass dies Halterungen waren, um ein Schwert oder einen Bogen darin zu platzieren, erkannte sie nicht. Der Nuke war nicht klar, dass sich ganz in ihrer Nähe eines der Templerlager befand und dies eine provisorische Einzeltrainingsstätte war. Das Einzige, was das Mädchen in diesem Moment interessierte war, dass die beiden Pfähle einen perfekten Abstand zueinander hatten, stabil waren und die Höhe auch stimmte. Mehr wollte und brauchte sie nicht. Drum entsiegelte die Nuke auch ihre Konstruktion und brachte die Rollen an. Provisorisch befestigte Myra sie stabil genug, dass sie mit voller Kraft dann rütteln konnte und sie nur minimal. Dabei achtete sie darauf, dass der Rollmechanismus nicht eingeschränkt wurde. Dann kam die Sehne auf und wurde an den Rollen festgebunden, sodass sie einen geschlossenen Kreis ergab. Hoffentlich strapaziert dass die Rollen und Sehnen nicht schon zu sehr... Myra hatte ihre Bedenken, aber was tat man nicht alles im Sinne der Wissenschaft? Ohne Tests wäre das Mädchen kaum fähig, den Bau ihres Bogens abzuschließen. Sie warf einen kurzen Blick auf den Baum vor sich. Er würde ein gutes Ziel abgeben. Aber zuvor sah sich die Spitzöhrige um. Niemand schien in ihrer Nähe, könnte sie beobachten. Und vom Weg aus war sie zwischen den Zelten auch nicht besonders auffällig. Perfekt. Dennoch sollte sie Vorsichtsmaßnahmen treffen. Waffe waren nicht erlaubt und darunter zählte sicherlich auch Tests von Prototypen. Und wer wusste schon, ob nicht plötzlich ein Kind aus einem Zelt und ihr direkt in den Pfeil springen würde? Drum sperrte sie einen kegelförmigen Bereich ihrer Schussbahn ab. Niemand könnte Myra und ihrer Konstruktion näher als drei Meter kommen, ohne von einer Schnur aus Drahtseil aufgehalten zu werden.
Nun war das Mädchen endlich bereit. Sie atmete durch, so gut es ihr durch den Mundschutz möglich war und zog einen Pfeil aus ihrem Köcher. Gewissenhaft legte sie ihn an die äußerste Sehne zu ihr hin an und spannte. Es geht zu schwer. War Myras erste Feststellung und handelte sogleich. Sie kannte die Kraft, die sie aufbringen musste, um etwas durch die Rollen zu ziehen. Und hier ging es eindeutig zu schwer. Myra verband die beiden Rollen mit der Sehne neu. Für die untere verwendete sie bereits eine normale, ohne Verankerung. Mit der neuen Wickelmethode legte sie auch einen neuen Pfeil an und spannte. Nun ging es im Vergleich zu einem normalen Bogen immer noch schwerer, aber leichter als zuvor. Und harkte die Rolle auch fest und die Sehne lag ruhig und stabil in Myras Hand. Guut... Murmelte sie leise. Sie benötigte keine weitere Kraftanstrengung. Das wird das zukünftige Zielen um einiges erleichtern. Myra ließ los. Der Pfeil brauste mit einer Geschwindigkeit davon und rammte sich tief in den stabilen Stamm des Nadelbaumes. Für einen kurzen Moment blieb die Schwarzhaarige mehr als erstaunt zurück, fasste sich aber sogleich, als sie bemerkte, wie die mittlere ungebrauchte Sehnenlänge nach dem Schuss schwangen. Das Mädchen ergriff sie und stellte sie wieder ruhig. DAS ist nicht gut. Sie fluchte zischend. Das durfte auch nicht passieren. So würde sich die Sehne bereits nach kurzem Gebrauch direkt ausleiern. Irgendwas passte noch nicht in ihrer Konstruktion. Sitzt die Sehne nicht fest genug? Kann nicht sein... fester kann ich sie nicht ziehen, sonst lässt er sich nicht mehr richtig spannen. Irgendwie muss ich es anders stabilisieren. Nachdenklich betrachtete Myra die Sehne. In Ihrem Kopf rasten Gedanken und Möglichkeiten, aber nur eine verhalf ihr zu dem erhofften Aha-Effekt. Es würde nur als Provisorium dienen, aber für die Tests sollte es genügen. Sie band die ungebrauchten Sehnen aneinander. Kein Witz. Es war tatsächlich eine gut durchdachter Gedanke. So wäre, nach ihrer Rechnung, die Sehne weiterhin spannbar, es käme aber nicht zu Schwingungen. Das sollte sich nun testen lassen und Myra ließ keine Sekunde dieser wertvollen Zeit verstreichen.